Im technologischen Kalten Krieg

Roderick Kefferpütz
7 min readJul 6, 2018

Vor Jahren wurde China noch als billige Werkbank der Welt belächelt. Diese Zeit ist um. Mittlerweile ist das Lächeln mancherorts blankem Entsetzen gewichen. Wir befinden uns inmitten eines technologischen Wachwechsels. Aus der Werkbank der Welt ist das Forschungszentrum der Welt geworden. Und einige im Westen fangen an, das in größeren historischen Dimensionen zu sehen. In den tausend Jahren zwischen 500 und 1500 n. Chr. war China in fast allen Bereichen überlegen. Erst mit der Aufklärung, konnte der Westen eine innovative Kraft entwickeln. Kritisches Denken, freie Wissenschaft und Kreativität entfesselte sich überall in Europa und führte dazu, dass der Westen China technologisch abhängen konnte. Aber die Zeit der technologischen Vorherrschaft neigt sich dem Ende zu. Wir sind Zeuge Chinas technologischer Rückkehr auf die Weltbühne.

2014 war Europa noch auf Augenhöhe bei den öffentlichen Forschungs- und Entwicklungsausgaben. Mittlerweile ist das Reich der Mitte an uns vorbeigezogen und bringt 20% der globalen Forschungsausgaben auf. Gerade in Schlüsseltechnologien wie die Künstliche Intelligenz werden Unsummen investiert. Im vergangenen Jahr hat das Land mehr Geld in diesen Bereich investiert als die USA. Im Gegensatz zu Europa boomt auch der Venture Capital Markt. Startups schießen wie Pilze aus dem Boden. Ein Drittel der globalen Einhörner (ein Startup mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde US-Dollar) kommen aus China.

China hat eine lange technologische Aufholjagd hinter sich. Ideen und Innovationen des Westens wurden geklont, gekauft — und auch raubkopiert. Man kopierte Produkte und kaufte sich vor allem Technologien durch Firmenübernahmen ein. Seit 2006 haben sich Chinas jährliche ausländische Direktinvestitionen fast verzehnfacht. In zahlreichen Firmen, vom Roboterhersteller Kuka und der Deutschen Bank bis zu Daimler, sind chinesische Investoren eingestiegen. Vor allem Baden-Württemberg, Heimat zahlreicher hidden champions und technologischer Weltmarktführer, ist betroffen. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass ein Viertel aller chinesischen Firmenbeteiligungen in Deutschland zwischen 2014 und 2017, ins Ländle gingen.

Dabei konzentriert sich China vor allem auf die nächste Generation von Technologien. China weiß: es kann auf dem Markt für Verbrennungsmotoren nicht mit deutschen Autoherstellern mithalten. Also fokussiert es sich auf die Batteriezelle und Elektromobilität; ein Zukunftsmarkt, der in Europa vernachlässigt wurde. Leapfrogging, heißt die Strategie, bei der China als Nachzügler gewisse technologische Stadien in einen großen Entwicklungssprung überspringt, um sich dann an die Spitze zu stellen.

Technologie spielt für China eine Kernrolle im geostrategischen Machtkalkül — und auch auf dem kulturellen Feld. Chinesen sind von Technik begeistert und Cixin Lius Science-Fiction-Triologie Die drei Sonnen, in der Wissenschaft und Technologie als Machtsicherung eine zentrale Rolle spielen, ist ein Bestseller geworden.

Vom technologischen Aufholen zum Überholen — die Volksrepublik schaltet jetzt auf Angriff. Bis 2035 will China zur wichtigsten Innovationsmacht der Welt werden. Die Made in China 2025-Strategie stellt dafür die entscheidenden Weichen. Sie ist eine Kampfansage. In zehn Schlüsselbranchen — von Biomedizin und Robotik bis zur Künstlichen Intelligenz und alternativen Antriebstechnologien — will China international führend sein. Aber es geht nicht bloß darum, den Westen technologisch abzuhängen. China will technologische Autarkie: „Um zu einer Internet-Supermacht zu werden, brauchen wir unsere eigene Technologie. Und wir müssen sie komplett beherrschen“ — das ist die Devise von Staatschef Xi Jinping. Schon bis 2020 soll in technologisch wichtigen Schlüsselbranchen der Anteil heimischer Komponenten zwischen 50 und 70% des nationalen Marktes ausmachen. Das ist technologischer Protektionismus. Soviel auch zu Xi Jinpings Freihandelsbekenntnis beim Davoser Weltwirtschaftsforum in 2017.

Zweitens, soll die technologische Führungsrolle es China ermöglichen, neue Abhängigkeiten zu schaffen. Die neue Seidenstraße, Pekings ambitionierte Infrastrukturoffensive entlang der Route nach Europa, soll nun auch um eine digitale Komponente erweitert werden. China will auch die digitale Infrastruktur in anderen Ländern schaffen. Es soll eine „Schicksalsgemeinschaft im Cyberspace“ geschaffen werden, so der chinesische Vize-Minister für Informationstechnologien. China will seine Technologien und Standards in anderen Ländern durchsetzen, nicht nur um seine Firmen zu stärken, sondern um technologische Abhängigkeiten zu schaffen und den digitalen Raum der betroffenen Länder gegenüber anderen Mächten abzuriegeln. In zahlreichen afrikanischen Staaten bietet China schon capacity building bei cyber governance an. So hat Tansania schon ähnliche Cybergesetze und Internetkontrollen verabschiedet, die digitale Inhalte und Blogging-Aktivitäten beschränken. Peking spielt digitales Wei Qi — das Umzingelungsbrettspiel, besser bekannt als Go, bei dem es darauf ankommt, leere Räume einzukreisen und zu beherrschen. Damit verschafft es sich eine digitale Einflusssphäre. Digitalisierung soll nicht nur Chinas autokratisches System sichern, sondern auch die Systeme anderer Staaten beeinflussen. Die Vorbeben dieser technologischen Wachablösung sind mittlerweile zu spüren. Trumps Handelskrieg ist auch eine Antwort auf die technologische Kräfteverschiebung. Die USA wollen den technologischen Aufstieg verhindern beziehungsweise verlangsamen, denn die weltpolitische Relevanz Amerikas beruht auch auf technologischer Dominanz.

Die US-Regierung hat in zahlreichen neuen Berichten dargestellt, wie China sich bemüht, ausländische Technologien zu erwerben. Ein Bericht für das amerikanische Verteidigungsministerium illustriert wie chinesische Venture Capital-Firmen gezielt in amerikanische Startups investieren und die „Section 301 Investigation“ des Handelsministeriums zu chinesische Praktiken beim Transfer von Technologie war Grundlage für Präsident Trumps 25-prozentigen Strafzoll auf chinesische Hoch- und Industrietechnologien. Mittlerweile werden junge Chinesen, die an amerikanischen Universitäten, in technologisch-relevanten Bereichen wie Robotik und Künstliche Intelligenz tätig sind, die Visas verweigert. Zudem soll das Mandat des Regierungsausschusses CFIUS, zuständig für die Prüfung von ausländischen Investitionen erweitert werden, um chinesische Investitionen besser einhegen zu können. Und schließlich hat auch der US-Senat vor kurzem dafür gestimmt, dass keine US-High-Tech-Güter an den chinesischen Telekommunikationsriesen ZTE verkauft werden dürfen. Damit treiben die USA einen chinesischen Technologiekonzern in die Pleite.

Was macht Europa in dieser Situation? Jahrelang hat man Chinas Bemühungen tatenlos zugesehen und sich darauf beschränkt, mit einer Politik der wirtschaftlichen „Reziprozität“ mehr Marktzugang zu erhalten. Die Ironie dabei ist, dass der chinesische Marktzugang für viele europäische Unternehmen eigentlich immer mit technologischer Preisgabe einhergeht. Damit nimmt man das Risiko in Kauf, für die kurzfristigen kommerziellen Chancen des gewaltigen chinesischen Marktes mittel- und langfristig von chinesischen Unternehmen auf dem Weltmarkt verdrängt zu werden. Aber die Sirenenklänge des chinesischen Marktes waren oft zu verführerisch und verdeckten, dass neben Kommerz auch Strategie dahintersteckt. Wirtschaftspolitik wurde rein kommerziell betrieben, nicht als außenpolitisches Werkzeug — es war economic policy, nicht economic statecraft. China ist dagegen stärker darauf bedacht, die technologischen und wirtschaftlichen Machtpotentiale unserer Zeit zu begreifen und zu nutzen. Die europäische Nachbarschaft droht durch die neue Seidenstraße von chinesischen Unternehmen dominiert zu werden.

Nur langsam setzt ein europäischer Sinneswandel ein — auch in Deutschland. Laut einer FAZ-Umfrage empfinden zwei Drittel der befragten Führungskräfte aus Politik, Unternehmen und Verwaltung die zunehmende Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China als „beunruhigend“. Das sind neue Töne. Nach langer Zeit werden auch erste Maßnahmen getroffen. Das Europaparlament hat sich z.B. für neue EU-Regeln für Investitionskontrollen ausgesprochen. Damit sollen die EU-Staaten mehr Spielraum erhalten, Übernahmen in technologisch-strategischen Bereichen zu verbieten, gerade wenn die Übernahme geostrategisch motiviert ist. Europa darf kein Otto-Katalog werden, in dem Unternehmen mit strategisch relevanten Hochtechnologien zum Ausverkauf stehen. Und um die Technologien und Innovationen europäischer Unternehmen besser zu schützen, hat die EU-Kommission auch ein Verfahren gegen China vor der WTO eingereicht, mit der Begründung die chinesische Gesetzgebung würde die Unternehmen zu Technologietransfer zwingen.

Das sind wichtige Schritte in die richtige Richtung. Peking kritisiert diese Maßnahmen als „protektionistische Tendenzen“. Tatsächlich handelt es sich um eine Abkehr von wirtschaftspolitischer Naivität. Europa darf sich hier nicht einschüchtern lassen. Kirstin Shi-Kupfer vom Mercator Institute for China Studies bringt es auf dem Punkt: China ist (noch) nicht allmächtig und immer noch technologisch abhängig. Das Land der Mitte importiert mittlerweile mehr Halbleiter als Öl. Und die technologische Großoffensive Pekings hat auch in China ihre Kritiker. Verschiedene Wissenschaftler kritisieren den gegenwärtigen Kurs als „strategisches Abenteurertum“ und „strategischer Überdehnung“ — eine Abkehr der strategischen Bescheidenheit für die Deng Xiaoping mit seinem Rat tao guang yang hui („halte Dich bedeckt“) plädierte.

Damit Europa nicht ins Hintertreffen gerät, reicht es aber nicht, nur chinesische Investitionen strategisch zu prüfen oder eine WTO-Klage einzureichen. Europa muss auch selber technologisch voranschreiten. Präsident Macron verfolgt diesen Ansatz: „Statt zu bedauern, dass die großen Champions der digitalen Welt heute Amerikaner sind und morgen Chinesen, sollten wir uns in die Lage versetzen, europäische Champions hervorzubringen.“ Und Macron lässt Taten folgen indem er eine ambitionierte Tech-Politik verfolgt. Mit der „Station F“ hat er das weltweit größte Zentrum für Startups geschaffen. Er plädiert für ein europäisches Zentrum für Disruptive Innovation, er hat eine Künstliche Intelligenz Strategie für Frankreich veröffentlichen lassen und trifft sich regelmäßig mit den CEOs der Technologie-Welt. Da kann Deutschland noch einiges von Frankreich lernen.

Europa muss in die Technologien und Innovationen der Zukunft investieren. Denn was bleibt für Europa übrig, wenn es nicht mehr technologisch in der ersten Liga spielt? „Wenn wir da einmal abgehängt sind, gibt es keine zweite Chance“, so Joschka Fischer. Dabei geht es auch um die Außenwirkung. China vertritt selbstbewusst das Konzept der autoritären Modernisierung. Unsere liberale Demokratie und soziale Marktwirtschaft müssen beweisen, dass sie die Transformation und Modernisierung schnell und erfolgreich meistern können. Sonst könnten andere Länder Chinas Weg einschlagen. Das bringt uns zurück in die globale Systemkonkurrenz zwischen autoritären und demokratischen Systemen.

Was Europa und vor allem Deutschland allerdings zunehmend benötigen, ist eine strategische Kultur, die Wirtschafts- und Digitalpolitik auch unter geopolitischen Gesichtspunkten versteht — sprich mehr economic statecraft. Was ist Europas Antwort auf Chinas neue Seidenstraße-Initiative? Welche Wirtschafts-Außenpolitik verfolgt Europa in seiner Nachbarschaft? Brüssel benötigt eine umfassende Strategie zur digitalen und wirtschaftlichen Außenpolitik, in der eine digitale Nachbarschaft gefördert wird, die dem offenen Gesellschaftsmodell der liberalen Demokratie entspricht. Die EU muss vor allem die internationale Cyber Governance prägen. Peking schläft nicht. China bringt sich aktiv in den internationalen Normungsgremien ein und hat eine klare Strategie. Es hat ein Weißbuch zu KI-Standards veröffentlicht, hat sich für das Sekretariat des neuen Normungsausschusses zu KI bei der Internationalen Organisation für Normung (ISO) beworben und 20 chinesische Standards zu Robotik sind kurz davor von der ISO übernommen zu werden. Europa muss selber mitgestalten und nicht die internationale Normung bei Zukunftstechnologien wie der Künstlichen Intelligenz in heiklen Fragen, sei es bei der Cybersicherheit oder Ethik, anderen überlassen. Deswegen braucht die nicht nur, wie von Präsident Juncker vorgeschlagen, einen europäischen Konnektivitätsfonds, der z.B. die Balkanländer digital vernetzen soll, sondern auch eine Strategie, die europäische Industrie- und Digitalstandards fördert. Standards erscheinen sanft, schaffen aber harte Fakten.

Den technologischen Aufstieg Chinas kann man nicht verhindern, aber die technologische Expansion Chinas in andere Staaten muss man auch nicht einfach hinnehmen. Sondern auf chinesische Ambitionen seinerseits selbstbewusst und ambitioniert antworten.

Eine gekürzte Fassung des Beitrags wurde beim Zentrum Liberale Moderne veröffentlicht: https://libmod.de/roderick-kefferpuetz-wie-der-westen-chinas-aufstieg-bremsen-koennte/

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Roderick Kefferpütz

Advisor and Writer on the changing geopolitical and economic world order. (www.roderickkefferpuetz.com )